Achtsamkeit hat großes Gesundheitspotential – aber McMindfulness ist kein Allheilmittel

Großbritanniens stabiler parlamentarischer parteiübergreifender Report über den Nutzen von Achtsamkeit ist ein Modell für die Gesetzgeber der Industrienationen: Diese ‚Art des Seins‘ ist keine schnelle Lösung.

Achtsamkeit entwickelt sich rasend schnell zu einem globalen Phänomen, unterstützt von immer gründlicheren wissenschaftlichen Untersuchungen und in Teile zerschlagen auf der Suche nach neuen Praktiken, die uns vielleicht dabei helfen, die Herausforderungen, die unsere Gesundheit bedrohen, besser zu verstehen und aufzulösen.

In dieser Woche wird ein britischer Grundsatzbericht Empfehlungen aussprechen für die Bestimmungen bzgl. Achtsamkeit in vielen öffentlichen Einrichtungen. „Mindful Nation UK“, basierend auf Aussagen, die einer parteiübergreifenden Gruppe des britischen Parlamentes vorgelegt wurden, beinhaltet enorme Hoffnungen für die Gesundheitspolitik in England und dem Rest der Welt.

Die WHO hat davor gewarnt, dass psychische Störungen bis 2030 der größte Teil der Krankheiten in den Industrienationen sein werden. Wir brauchen dringend neue Annäherungen, um diese Epidemie in Angriff zu nehmen, und entschieden mehr Forschung, um die Wirksamkeit von Achtsamkeit als Präventionsstrategie zu untermauern. Bereits jetzt steht fest, dass Achtsamkeitstraining das Risiko von Rückfällen bei rezidiven Depressionen um ein Drittel reduziert. Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse von 209 Studien schlussfolgerte, dass achtsamkeitsbasierte Maßnahmen „beträchtliche und klinisch signifikante Effekte“ bei der Behandlung von Angstzuständen und Depressionen zeigten – Effekte, die durch Wiederholungen aufrecht erhalten werden konnten. Dies sind vielversprechende Resultate für einen Umstand, bei dem es nur begrenzte Behandlungen gibt. Dem Bedürfnis, sowohl unser Verständnis dafür zu vertiefen, wie Achtsamkeit diese positiven Ergebnisse beeinflusst, als auch zu lernen, wie sie unter anderen Bedingungen helfen kann, wird Ausdruck verliehen durch den Ruf nach größeren Investitionen in hochkarätige Forschungen.

Achtsamkeit wird oft missverstanden – also sollten wir uns darüber klar sein, was wir unterstützen.

Im Wesentlichen ist Achtsamkeit – es handelt sich nicht nur um Aufmerksamkeit, sondern auch um Bewusstsein, Beziehung und Mitgefühl – eine allgemeine menschliche Fähigkeit wie auch die Fähigkeit zum Spracherwerb. Es ist eine Möglichkeit, mit der eigenen Erfahrung in weiser und zielgerichteter Beziehung zu stehen, sowohl innerlich als auch äußerlich, mit sich selbst und mit anderen. Demzufolge gibt es auch eine grundlegende soziale Dimension ihrer Kultivierung. Für gewöhnlich verbindet Achtsamkeit das Kultivieren von Vertrautheit und Intimität mit Aspekten der alltäglichen Erfahrung, dessen, was wir häufig für selbstverständlich halten.

Dies beinhaltet unsere Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks, unseren eigenen Körper, unsere Gedanken und Gefühle und vor allem unsere stillschweigenden und eingeschränkten Überzeugungen sowie unsere stark konditionierten Gewohnheiten des Geistes und des Verhaltens, sowohl als Einzelne als auch in der Gemeinschaft.

Während die systematischste und verständlichste Beschreibung der Achtsamkeit aus der buddhistischen Tradition stammt, ist Achtsamkeit kein Katechismus, keine Ideologie, kein Glaubenssystem, keine Technik, keine Religion und auch keine Philosophie. Es wird am besten beschrieben mit „eine Art zu sein“. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, sie durch Praxis weise und effektiv zu kultivieren. Grundsätzlich reden wir von Bewusstsein – reinem Bewusstsein, wenn wir von Achtsamkeit sprechen. Es ist eine angeborene menschliche Fähigkeit, die sich vom Denken unterscheidet, dieses allerdings vollkommen ergänzt.

Sie ist auch „größer“ als das Denken, weil jeder Gedanke im Bewusstsein gehalten, so angeschaut, erkannt und verstanden werden kann. Bewusstsein in seiner reinsten Form hat demzufolge das Potential, Qualitäten und neue Stufen von Freiheit zu entwickeln, um das Leben voll und weise auszuschöpfen und so weisere, gesündere, mitfühlendere und altruistischere Entscheidungen zu treffen.

In den letzten 40 Jahren hat Achtsamkeit in den verschiedensten Formen ihren Weg in die Mitte der Medizin, dem Gesundheitswesen und der Psychologie gefunden, wo sie umfassend angewandt und in klinischen Forschungen und durch die Neurowissenschaften weiterhin ausführlich untersucht wurde. In der letzten Zeit ist sie auch in Bildung, Wirtschaft, Regierung, Militärtraining (in den USA), Recht und Gesetz und vielem mehr vorgedrungen. Die Forschungsergebnisse der „Mindful Nation UK“ suggerieren, dass Achtsamkeit die Fähigkeit besitzt, sich den größeren Herausforderungen und Gelegenheiten zu stellen, die im Bereich von Gesundheit, Bildung, Arbeit und Justiz bestehen, indem sie in innere Ressourcen vordringt, die wir alle besitzen, die jedoch meist unterentwickelt sind.

Viele Herausforderungen liegen vor uns. Kritiker liegen richtig, wenn sie sagen, dass wir ein tiefes Verständnis der Feinheiten der Achtsamkeit brauchen, wenn es effektiv gelehrt werden soll. Sie kann niemals eine schnelle Lösung sein. Manche haben Bedenken geäußert, dass eine Art oberflächliches „McMindfulness”, die Oberhand gewinnt, das die ethischen Grundlagen der meditativen Praktiken und Traditionen, aus denen die Achtsamkeit entstanden ist, ignoriert und sie von ihrem tiefgreifend transformierenden Potential trennt. Während dies meiner Erfahrung nach weit von der Norm entfernt ist, argumentieren diese Stimmen aufgrund einiger opportunistischer Elemente, dass Achtsamkeit ein Geschäft geworden ist, das empfindliche Klienten, die sie als Allheilmittel betrachten, nur enttäuschen kann.

Um sich dem zu widmen, sind Finanzmittel notwendig, um eine hochwertige Faktenlage mit breitgestreuter Popularität zu schaffen, um Musterlösungen zu etablieren und zu verbreiten und Lehrer auszubilden und um solche Menschen zu identifizieren, die Achtsamkeit wirklich benötigen, und sie darin zu unterstützen, passende Programme zu finden. Regierungen und öffentliche Körperschaften spielen eine entscheidende Rolle dabei, den Zugang zu evidenzbasierten Kursen zu verbessern, die Entwicklung von Lehrerausbildungen zu unterstützen und weiter neue Maßstäbe zu setzen für hochqualifizierte Forschungen.

Die parteiübergreifende Achtsamkeitsgruppe des britischen Parlaments und ihre „Mindful Nation UK”-Untersuchung hat Aussagen von führenden Wissenschaftlern, Praktizierenden, Kommissionsmitgliedern und Politikern angehört und macht präzise, kostengünstige Vorschläge zur Entwicklung des Achtsamkeitspotentials. So gesehen kann Großbritannien als ein Modell für Gesetzgeber und Experten gesehen werden, um ähnliche Untersuchungsprogramme in anderen Ländern zu etablieren.

Wenn der einzigartige Ursprung des “Mindful Nation UK”-Reports, eine parteiübergreifende Zusammenarbeit, anerkannt ist und seine vorausschauenden Empfehlungen für weitergehende Forschungen und Umsetzungen von Regierung und anderen Behörden befolgt werden, hege ich keine Zweifel daran, dass die Aus- und Nachwirkungen dieses Reports in Großbritannien hochgradig heilsam sein werden. Sie werden in der Tat einige der dringendsten Gesellschaftsprobleme an ihrer Wurzel packen – auf der Ebene des menschlichen Geistes und des Herzens.

via Mindfulness has huge health potential – but McMindfulness is no panacea | Jon Kabat-Zinn | The Guardian | Übersetzung durch Andrea Weyerbusch